Expertenstimme: Prof. Dr. Barbara Steiner

AAL-Expertin Prof. Dr. Barbara Steiner über ethische und gesellschaftliche Herausforderungen, mögliche Vorbehalte und persönliche Erfahrungen von AAL – Teil 2 des Interviews

AAL-Expertin Prof. Dr. Barbara Steiner hat bereits mehrere Jahre zu dem Thema technische Hilfsmittel in der Häuslichkeit geforscht. Als Professorin für Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule in Heidenheim diskutiert sie auch mit ihren Studierenden über die Digitalisierung und innovative Möglichkeiten der ambulanten Pflege. Im zweiten Teil unseres Interviews sprechen wir mit ihr über mögliche Vorbehalte älterer Menschen gegenüber neuen Technologien, warum Ambient Assisted Living (AAL) bislang noch an der Finanzierbarkeit scheitert, und was der Technikeinsatz mit unserem Selbstverständnis zu tun hat.

Foto: ©aalright

Zum ersten Teil des Interviews gelangen Sie hier.

Das Ziel von Ambient Assisted Living (AAL) ist es, Pflegebedürftigen so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen. Doch was genau bedeutet „selbstbestimmtes Wohnen“ eigentlich?

Man muss immer den Einzelnen fragen, was er darunter versteht. Generell ist es jedoch wichtig zu erkennen, dass Ambient Assisted Living nicht nur etwas mit pflegebedürftigen Älteren zu tun hat. AAL ist für Menschen mit Behinderungen aller Altersgruppen. Auch muss das Feld zuerst ein wenig strukturiert werden, bevor man sich überlegen kann, was der einzelne Mensch braucht. Während es in einem Fall z. B. viel mehr um die Gesundheit geht, steht bei jemand anderem die Freizeit oder die Mobilität im Vordergrund. Die Übergänge zwischen Komfort und Unterstützung im Hilfsbedarfsfall sind oft fließend.

Selbstbestimmung definiert demnach jeder anders?

Ich denke, es geht dabei eher um die Frage der Lebensqualität. Selbstbestimmung ist nur ein Teil davon. Zur Lebensqualität gehören neben Selbstständigkeit und Autonomie z. B. auch die Sicherheit. Ältere Menschen brauchen die Sicherheit, dass jemand sie findet, wenn sie allein wohnen und stürzen. Die Sicherheit, dass man Hilfe bekommt, wenn man sie braucht. Dann geht es auch um das Thema Gerechtigkeit. Wenn es ein System gibt, kann ich es mir auch leisten? Oder muss mir die Gesellschaft das System zur Verfügung stellen? Müssen es die Krankenkassen zahlen? Auch die Infrastruktur spielt mit rein.

Bleiben wir bei dem Thema Finanzierung: Bis auf den klassischen Hausnotruf werden momentan keine weiteren AAL-Systeme von den Kassen bezuschusst. Woran liegt das?

Bei komplexen Systemen ist die Finanzierung eher schwierig, weil sie schwer zu überschauen sind. Man weiß nicht genau, was drinsteckt oder was zusätzlich noch gebraucht wird. Außerdem veraltet die Technik schnell und dann stellt sich die Frage, ob die Aktualisierung auch finanziert wird. Es tauchen demnach viele Folgefragen auf. Eine Strategie ist daher sicherlich, Stand-Alone-Systeme zu finanzieren, wie z. B. den klassischen Hausnotruf mit Knopfdruck, auch wenn dieses System langsam veraltet ist. Über die Pflegeversicherung bekommt man außerdem einen pauschalisierten Zuschuss von bis zu 4000 Euro, wenn man einen Pflegegrad hat. Welche Hilfsmittel letztendlich finanziert oder bezuschusst werden, kann man im Hilfsmittelkatalog nachlesen. Bei AAL denken wir immer an diese hochkomplexen digitalisierten Systeme, aber auch einfache Hilfsmittel wie eine beleuchtete Lupe für jemanden, der nicht gut sehen kann, gehören dazu.

Digitale Systeme haben es demnach schwerer, finanzielle Zuschüsse zu bekommen?

Ja natürlich, weil diese Systeme auch teuer und nicht selbstfunktionierend sind. Man braucht den Service dahinter, der das System einbaut und kommt, wenn etwas nicht funktioniert. Doch das findet auf dieser Ebene noch gar nicht statt. Deshalb hält man sich mit so einem digitalen System vielleicht noch eher zurück.

Was müsste denn von Seiten der Politik kommen, damit diese digitalen Systeme in der Gesellschaft breiter akzeptiert werden?

Da müssen wir uns nun fragen: Was wollen wir? Wollen wir von der Technik bevormundet werden, die wir in unseren eigenen, ganz persönlichen Bereich hereinlassen? Nehmen wir als Beispiel die große Herausforderung der Systemkompatibilität. Man könnte den Staat nun beauftragen, dafür zu sorgen, dass es ein einheitliches System für alle gibt. Die Wirtschaft würde jedoch sagen, der Staat könne den Menschen nicht vorschreiben, wie oder welche Technik sie benutzen sollen. Die Frage ist also: Soll etwas zentral gesteuert werden oder soll ich individuell entscheiden dürfen? Möchten wir unser föderales Gesellschaftssystem behalten, bei dem die Autonomie des Einzelnen eine Rolle spielt und jeder sich aussuchen darf, was für ihn passt? Die Technik stellt uns vor die Frage, wie wir unser Gesellschaftssystem haben möchten. Das Thema muss man auf dieser Ebene reflektiert betrachten, sonst fragt man sich immer, ob die Krankenkassen nicht dieses oder jenes System bezahlen könnten. Die Krankenkassen selbst müssen sich aber sicherlich auch ein Stück weit öffnen.


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